Ueber Frauenemancipation.
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bisher für männliche Borzüge gehalten hat. Diejenigen, welche
so ängstlich zu verhüten suchen, daß die Frauen Männer werden,
merken nicht, daß die Männer das werden, wozu sie die Frauen be¬
stimmt haben, daß sie jener Schwäche verfallen, welche sie so lange
an ihren Genossinnen gepflegt haben. Die Gemeinschaft des Lebens
hat die Neigung die Menschen einander ähnlich zu machen. Bei
der jetzt zwischen den beiden Geschlechtern bestehenden innigen Lebens- ^
gemeinschaft können die Männer männliche Tugenden nur dann be- I --
wahren, wenn die Frauen sie erwerben.
Es giebt kaum eine Lage, welche der Erhaltung des Charakter- s
adels oder der Geisteskraft so abträglich wäre, als wenn man in der
Gesellschaft vom geistig tiefer Stehenden lebt und sich mit Vorliebe / '
uni ihren Beifall bewirbt.' Warum sehen wir so oft im Leben auf
vielversprechende Anfänge so ungenügende — geistige und sittliche —
Leistungen folgen? Aus keinem anderen Grunde als weil der '
Strebende sich nur mit Solchen verglichen hat, die unter ihm stehen,
und nicht Vervollkommnung oder Anregung gesucht hat, indem er
sich mit seines Gleichen oder mit Ueberlegenen maß. Im gegen¬
wärtigen Zustand des socialen Lebens wird dieß immer mehr das
allgemeine Schicksal der Männer. Immer weniger streben sie nach
anderen Freundschaften, und immer weniger unterliegen sie anderen
persönlichen Einflüssen, als denjenigen, welche sie unter dem häus¬
lichen Dache finden. Um hier nicht mißverstanden zu werden, ist
es nothwendig, ausdrücklich der Annahme zu widersprechen, dajst
selbst jetzt die Frauen den Männern geistig untergeordnet sind.
Es giebt Frauen, welche sich an Geistcsstärke Men Männern, die
jemals gelebt haben, an die Seite stellen können, und wenn man
gewöhnliche Frauen mit gewöhnlichen Männern vergleicht, muß
inan sagen, daß die verschiedenartigen, obwohl geringfügigen, An¬
gelegenheiten, welche die Beschäftigung der meisten Frauen bilden,
vielleicht ebensoviel geistige Fähigkeiten wachrufen als die gleich¬
förmige Routine der Berufsarten, welche die tägliche Beschäftigung
der großen Mehrheit der Männer ausmachen. Es liegt nicht an den
Fähigkeiten selber, sondern an den kleinlichen Gegenständen und
Interessen, denen sie allein zugewendct sind, daß der Verkehr mit
Frauen, wie sie in Folge ihrer gegenwärtigen Stellung beschaffen sind,
auf hohe Fähigkeiten und Bestrebungen der Männer so oft zersetzend
einwirkt. Wenn die Frau für die großen Ziele und Gedanken,
welche dem Leben seinen Werth verleihen, kein Berständniß besitzt,
vder von dessen praktischen Zwecken nichts schätzt außer den per¬
sönlichen Interessen und persönlichen Eitelkeiten, dann wird, seltene
Fälle ausgenommen, ihr absichtlich und noch mehr ihr unabsichtlich
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