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Menschen die Dinge gemacht, ehe sie die Dinge zeichneten.
Die Griechen waren vortreffliche Architekten und Plastiker,
aber sie waren geringe Zeichner. Ganz so, wie die Ent
wickelung der Menschheit, zeigt sich die Entwickelung der
Kinder. Sie machen und bilden lange die Dinge, bevor
sie dieselben zeichnen. Wer der Kindesnatur gerecht werden
will, der muss das Kind zuerst arbeiten, das heisst, zuerst
die Dinge machen lassen, ehe er das Kind die Dinge zeich
nen lässt.
Das Herstellen, das Bilden, das Schaffen ist eine ur
sprüngliche, göttliche Tätigkeit; es beglückt das Kind am
höchsten; das Zeichnen, das Abbilden, das Nachbilden ist
nur eine Tätigkeit zweiten Ranges und gewährt nicht das
hohe Glück des Schaffens.
Warum dies? Weil die Erzeugung von Dingen weit
mehr Sinne und Kräfte des Menschen in Tätigkeit setzt,
als das Zeichnen von Dingen, und weil das grösste Glück
des Kindes in der Betätigung aller seiner Kräfte besteht.
Die Natur verlangt vom Kinde Betätigung aller seiner An
lagen und Kräfte; das Kind kann sich nur entwickeln, kann
nur wachsen, blühen und gedeihen durch Betätigung aller
seiner Kräfte.
Dieses Naturgesetz der Entwickelung des Kindes durch
Betätigung seiner Kräfte ist zum Glücke des Kindes und
zum Heile der Gesellschaft und des Staates, aber wie
sündigt unsere Lern- und Wissensschule gegen dieses
Naturgesetz, indem sie das Kind zur Untätigkeit, zum
passiven Hören und Sehen, Fühlen und Denken ver
urteilt?!?
Welche Kräfte des Kindes setzt das Zeichnen in Tätig
keit? Hauptsächlich das Auffassen der Linien, Formen und
Grössenverhältnisse eines Dinges durch das Auge, durch
das Sehen. Zu diesem Sehen kommt noch eine geringe
Arm- und Handbewegung, aber nur in zwei Ausdehnungen.
Das ist alles.