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wesen, so wäre der Gouverneur vielleicht gar nicht dahin ge¬
fahren. Hätte aber dieses Bewußtsein einen noch höheren Grad
erreicht, so ist es sehr möglich, daß auch der Minister den Befehl
nicht gegeben und der Kaiser ihn nicht bestätigt hättet» >
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4.
Alles hängt ab von der Fähigkeit jedes einzelnen Menschen, die christ¬
liche Wahrheit zu begreifen — Aber die führenden Persönlichkeiten unserer
Zeit halten die Erklärung der christlichen Wahrheit und die Verkündigung
derselben nicht für nötig, — für die Verbesserung des menschlichen Lebens
aber halten sie eine Veränderung der äußerlichen Lebensbedingungen in
den von der Macht erlaubten Grenzen für genügend. — Auf dieser
wissenschaftlichen Theorie der Scheinheiligkeit, welche die religiöse Schein-
Heiligkeit ersetzt hat, beruhen die Rechtfertigungen der Leute reicher Klassen
für ihre bevorzugte Lage. — Dank dieser Heuchelei und indem sie die
Gewallthat und die Lüge benützen, um ihre vorteilhafte Ausnahmsstellung
sich zu sichern, können sie sich heuchlerisch vor einander Christen
nennen und dabei ruhig sein. — Diese selbe Scheinheiligkcit erlaubt den
Menschen, welche sich zum Christentum bekennen, an den Institutionen
der Gewaltthat mitzuhelsen. — Keinerlei äußerliche Verbesserungen des
Lebens können es weniger elend machen. — Das Elend kommt von der
Zwietracht her, die Zwietracht aber davon, daß man nicht der Wahrheit,
sondern den Lügen folgt. — Die Wiedervereinigung ist nur in der
Wahrheit möglich. — Die Scheinheiligkeit verhindert die Wiedervereinigung,
da die Menschen durch Scheinheiligkeit sich und anderen jene Wahrheit
verbergen, die sie kennen. — Die Scheinheiligkeit verwirrt den Begriff
von Gut und Böse und steht daher der Vervollkommnung der Menschen
im Wege. — Offenbare Missethäter und Verbrecher sügen den Menschen
weniger Böses zu, als diejenigen, welche durch die gesetzliche Gewaltthat
leben und sich mittelst der Heuchelei decken. — Alle sind sich der Frevel¬
haftigkeit unseres Lebens bewußt und würden es längst geändert haben,
wenn es nicht durch die Heuchelei verdeckt wäre. — Aber wie es scheint,
sind wir bis zu den Grenzen der Heuchelei gelangt und wir bedürfen nur
noch einer Anstrengung des Gewissens, um wie aus einem Alpdrücken zu
einer neuen Thütigkeit zu erwachen.
Alles hängt folglich ab von der Kraft der Erkenntnis der
christlichen Wahrheit durch jeden einzelnen Menschen.
Und darum sollte es scheinen, daß auf die Verstärkung dieser
Erkenntnis, in uns selbst und anderen, das Streben aller Leute