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Für viele Wissenschaften ist die Kenntnis dieser Sprachen fast
unerlässlich, und der an Latein und Griechisch geschulte Philo¬
loge wird auch in sprachlicher Beziehung viel aus ihnen lernen
können. Was ich behaupte und zu beweisen suchte, ist nur,
dass diese beiden Sprachen allein nicht imstande sind, jenes
Maß formaler Bildung zu vermitteln, dessen wir heute mehr
als je bedürfen. Ich müsste befürchten, dass, wenn die formale
Bildung unserer Jugend bloß durch den Unterricht in den mo¬
dernen Sprachen vermittelt werden sollte, das geistige Können,
die logische Gewandtheit, die Leichtigkeit und Schärfe der
Auffassung bei der künftigen Generation in bedauerlicher Weise
vermindert würden.
Hofrath Schipper gehört zu denen, die das Latein als Unter¬
bau, als Fundament der formalen Bildung beibehalten, aber
das Griechische abschaffen möchten. Einem so verehrten und
so bedeutenden Gegner gegenüber ist es Pflicht, die Argumente
recht sorgsam zu wählen und durch möglichst eingehende Be¬
gründung zu zeigen, welch hoher Bildungswert mit der Ab¬
schaffung des Griechischen verloren gienge. Sie gestatten mir
deshalb jetzt, wo ich zum Griechischen komme, etwas mehr
ins einzelne zu gehen, wobei sich auch Gelegenheit finden wird,
auf die Ansichten und Vorschläge Wilamowitz-Moellendorffs
zurückzukommen.*)
Der Bildungswert des Griechischen liegt nach meiner durch
eine vieljährige Schulerfahrung wie auch durch theoretisches
Nachdenken immer mehr gefestigten Überzeugung auf der for¬
malen, der ästhetischen und nicht zum mindesten auf der
ethischen Seite. Wilamowitz findet im Gegensätze dazu in
der durch das Griechische zu vertiefenden historischen Bil¬
dung das am meisten erstrebenswerte Ziel des griechischen
Unterrichtes, ein Ziel, das auch dem gegenwärtigen Stande der
Forschung und den in den letzten Decennien gewonnenen wirk-
!) Wilamowitz’ Reformvorschläge sind bekanntlich abgedruckt in
den „Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts”. Halle 1901,
S. 205--217.