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Publicum, sondern auch die Art und Weise, wie ibm die Dich¬
tung dargeboten wird. Außer diesem für Homer grundlegenden
Gesichtspunkte scheint es mir für die ästhetische Würdigung
der homerischen Gestalten noch besonders wichtig, recht ein¬
dringende psychologische Analysen vorzunehmen, die namentlich
bei den Wechselreden oft erstaunliche Feinheiten der Charak¬
teristik an den Tag bringen. Überhaupt muss ich sagen, dass
Homer als Dichter in meinen Augen jedesmal wächst, wenn
ich nach längerer Pause wieder dazu komme, ihn in der Schule
zu interpretieren. Immer neue Schönheiten drängen sich mir
auf, immer deutlicher sehe ich, dass hier die Sprache der Natur
mit der höchsten Darstellungskunst in Verbindung getreten ist,
um etwas ganz Eigenartiges zu schaffen, das in der Weltliteratur
kein zweitesmal zu finden ist. Auch dafür finden Sie in meiner
oben citierten Schrift einige Beispiele. Lassen Sie mich dies¬
bezüglich nur ganz kurz auf die Bede Nestors im ersten Buche
der Ilias hinweisen und insbesondere auf die Worte, die der
erwachte Odysseus an Nausikaa richtet. Leider kommt es nicht
selten vor, dass die gekürzten Ausgaben in solchen Beden oft
Theile weglassen, die für das Verständnis des psychologischen
Aufbaues ganz unentbehrlich sind, ein Beweis, dass manche
Herausgeber solcher Chrestomathien sich mit der psychologischen
Zergliederung dieser Beden nicht allzuviel Mühe gegeben haben.
Ich war deshalb immer der Ansicht, dass es sich speciell für
Homer empfiehlt, den Schülern vollständige Ausgaben in die
Hand zu geben und den Lehrer die Auswahl selbst treffen zu
lassen. Denn wo es sich um ästhetische Erklärung handelt, da
kommt ja auf die Persönlichkeit des Lehrers und auf seinen
Geschmack alles an. Was ihm besonders gefällt, das wird er
auch anregend zu erklären wissen.
Es wäre noch viel über Homer zu sagen, allein ich fürchte
ohnehin, Ihre Geduld schon etwas zu lange in Anspruch ge¬
nommen zu haben, und habe doch noch einiges auf dem Herzen.
Ich übergehe deshalb Xenophon und Herodot und komme gleich
zu Demosthenes, über dessen Bildungswert ja sehr verschie-