Full text: Wiener Dombauvereins-Blatt Nr. 17 1883 (3.1883,17)

Wiener 
HMtbauverems-Alatt. 
III. Jahrgang. 
Wien, 27. Mär; 1883. 
Nr. 17. 
Der ehemalige St. Arsuta-Attar zu 
St. Stephan. 
Von Prof. Dr. W. A. Neumann. 
Haben wir unsere Geschichte des Lettners zu St. 
Stephan aus den Camesina'schen Regesten, die er in 
den Blättern des Vereines für Landeskunde von Nieder 
österreich niedergelegt hat, znsammcngestellt, so bieten 
dieselben auch für die übrigen Altäre, ja für die Bau 
geschichte des Domes eine reich fließende Quelle. Wir 
haben an der Geschichte des Lettners gesehen, daß die 
verschiedenen Altäre zu St. Stephan in einer, fast 
möchte ich sagen, genealogischen Beziehung zu einander 
stehen, und weiter, daß man kaum gründlich die Ge 
schicke eines Altars schildern kann, ohne die Bau 
geschichte des Domes überhaupt und die Beziehungen 
zu anderen Altären zu besprechen. Es wird sich das 
ganz besonders am St. Ursula- oder dem jetzigen St. 
Francisci-Scraphici-Altare zeigen, den wir an die 
Spitze unserer Studien stellen wollen. 
Der St. Francisci-Altar ist derjenige Altar an der 
Nordwand des Langbaues, welcher dem beim Bischofsthore 
Eintretenden zur linken Hand der erste ist. Er 
befindet sich jetzt innerhalb der Planke, welche die in 
Restaurirung befindlichen Theile abschließt. 
Derselbe hieß, der Inschrift gemäß, welche der 
letzte Wohlthäter dieses Altares an der marmornen 
Leuchterbank anbringcn ließ, ehemals St. Ursula-Altar, 
oder, was damit fast identisch ist, Altar der 11.000 
Jungfrauen. Letzterer Name begegnet uns in den 
Camesina'schen Regesten als der ältere. Die Legende 
von den 11.000 Jungfrauen, welche unter Führung 
der britischen Königstochter St. Ursula zu Schiffe nach 
Cöln kamen, dort i. I. 451 von den Hunnen überfallen 
und sämmtlich getödtet wurden, könnte immerhin auf eine 
Beziehung unseres Baues zum Cölner Hinweisen. Das 
ist freilich reine Vermuthung. Sicherer steht, daß dieser 
Altar mit der Universität in einer Verbindung war. 
Freilich kann ich nicht angeben, ob er schon 1384 be 
standen habe, vielmehr glaube ich, daß das Jahr 1395 
nicht allzu weit von seinem Ursprungdatum entfernt 
sei- Ins Jahr 1384 fällt das Albertinische Diplom 
der Universität und die Begründung der rheinischen 
Nation an derselben. Aber schon 1381 hat der im 
Verlaufe unserer Abhandlung zu nennende M. Ger- 
hardus Fischbeck die Würde eines Rectors der Univer 
sität bekleidet. Als die rheinische Nation nicht ohne 
Einfluß der von Paris nach Wien übersiedelnden 
deutschen Lehrer nach dem Beispiele der Sorbonne die 
h. Ursula zu ihrer Schutzpatron«: wählte, gewann 
unser Altar erhöhte Bedeutung. Die Bollandisten 
(4L. 8. IX. Oct. 21. p. 290) wissen aus Crombachs 
Werke (8. IlrMa. vinäiosta), daß die rheinische Na 
tion das Fest dieser Heiligen feierlich beging: es wohn 
ten in St. Stephan der Rector und die Universität 
dem Hochamte und der Festpredigt bei. 
Die Bauentwicklung des gothischen Langhauses 
scheint von Westen nach Osten vorgeschritten zu sein: 
so daß beispielsweise der seit dem XVI. Jahrhunderte 
in die Vorhalle des Bischofsthores einbezogene Strebe 
pfeiler noch in Rudolphinischer Zeit eine in den 
Geheimbuchstaben dieses Fürsten geschriebene Inschrift 
erhalten und die Höhe bezeichnen konnte, bis zu der da 
mals der Bau sich erhoben hatte, und daß es wahrscheinlich 
nicht allzu gewagt sein dürfte, anzunehmen, daß der 
St. Ursula-Altar schon 1395 gleich an der gothischen 
Nordwand seinen Platz fand. Freilich mag dem schärfer 
Zusehenden dies darum unmöglich erscheinen, weil der 
zwischen der neuesten gothischen Nordwand und der ent 
sprechenden Wand des Albertinischen Baues entstehende 
lange Gang *) sicher ungedeckt bleiben mußte, bis man 
zur Einwölbung im XV. Jahrhunderte schritt. Es müßte 
dieser Altar also im Freien gestanden haben, wenn 
er schon 1395 gerade den Platz einnahm, auf dem 
er jetzt steht. Aber man könnte darauf antworten, daß 
immerhin der Altar selber ein schützendes Dach konnte 
erhalten haben, so daß er gleichsam eine kleine Capelle 
links vom Bischofsthore bildete. 
Doch kann diese, wie eine ganze Reihe damit zu 
sammenhängender Fragen jetzt nur e:n Mann endgiltig 
lösen, das ist der gründlichste Kenner von St. Stephan, 
der Dombaumeister Herr Friedrich Schmidt. 
Würde er es als unmöglich erklären, daß schon 
1395 der St. Ursula Altar an der Stelle errichtet 
worden sei, wo er jetzt steht, so müßte man eine 
Translation desselben aus dem Albertinischen Baue 
an seinen jetzigen Platz im Laufe des XV. Jahrhun- 
dertes annehmen müssen. Und es würde sich dann 
eine andere, ganz besonders schöne Ansicht über die 
innere Einrichtung des Langhauses ergeben: 
Denn es würde sich Herausstellen, daß überhaupt 
die an die Fensterpfeiler gestellten Altäre im ursprüng 
lichen Bauplane des Langhauses nur einen secundären 
Platz fanden, da ein ganz anderer großer Bauplan 
für die Altäre des Langhauses vorhanden war. An 
den vier Ecken desselben sollte nämlich je ein Baldachin- 
Altar stehen. Die gewaltsame Durchbrechung dieses 
Principes durch Oechsel-Pilgrams Orgelfuß mag Eini- 
H Man sehe den Grundplan desDombaumeistersFr. Schmidt.
	        
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