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bestehendes Blondel'sches Portale entfermt, um einem
gotischen den Platz zu machen, wo nie ein solches
gestanden. Unser Fall ist analog dem der Dionysius
kirche in Eßlingen, wo man es mit Freuden begrüßen
würde, wenn es gelänge, das alte romanische Portale
sreizulegen.
Unser Domportale ist, seines Arkadenfrieses beraubt,
ein Torso, außen und innen das Bruchstück
eines Kunstwerkes; alle Anzeichen sind da, alle Ansätze,
um es, statt daß es einfällt, in alter Schönheit
wieder erstehen zu lassen. Wenn es zur ehemaligen
Geltung kommen würde, müßte allerdings das hohe
„Riesenfenster" etwas an seiner, heutzutage nicht
mehr durch Beleuchtungsverhältnisse der Empore
erforderten Höhe verlieren. Allein eben das gewinnt
es an imposanter Breite. Dazu kommt, daß es
durch das unterzusctzende Mäuerchen, das ja auf
ein Minimum reduzierbar ist, für das
Auge gewinnen würde, da seine Fensterbank nun nicht
mehr auf einem Dache aufstehen würde. Wenn cs für
das Auge an Breite gewinnt, so tritt die kahle Wand
der Fassade mit ihren acht schmalen, schwarzen Schlitzen
als ungezierte Fläche etwas zurück: die drei Statuen
oben, über sich die Balustrade, neben sich die Wasser
speier sind, weil viel zu hoch stehend, ein die öde
Fläche wohl abschließendes, aber nicht besonders
belebendes Element, sie werden auch von sehr wenigen
Leuten angesehen; die Blicke gehen selten so hoch, sie
haften doch zunächst am Portale. Und ist dieses voll
endet, sowohl in der Bekrönung, als in der Halle,
dann erst gewinnt auch die Fassade den Charakter
allseitiger Vollendung und die Verwendung
des spätromanischen Rundbogenstiles in der unteren
Partie mit dem „protzenden" Inneren und die des
auch geschichtlich succedierenden Spitzbogenstiles oben,
wird so wenig stören, wie das Spitzbogenfenster neben
dem romanischen Unterbaue der Heidentürme gewiß
nicht störend oder unharmonisch wirkt.
Aber warum ist die gotische Fassade am St. Stephan
so überaus kahl, ja ärmlich, trotz dem Maßwerke des
Riesenfcnsters? Hier, wie gewöhnlich, war die Fassade
der letzte Teil des eigentlichen gotischen Langhauses;
das Geld ging zur Neige oder mußte für die beiden
gotischen Türme, deren einer gar erst projektiert war,
gespart werden. Und Wien ging im XV. Jahrhunderte
rasch zurück. Für die Fassade war sicher das Geld
knapp berechnet. — Aber wir haben auch weiter
damit zu rechnen, daß gerade zur Westfassade kein
unmittelbarer Toreingang von dem ganz nahe stehenden
Messnerhausc führte. Aus einem ähnlichen, nur noch
nachdrücklicher wirkenden Grunde hat auch die Teyn-
kirche in Prag kein Westportale. Wie hier das be
rühmte Nordportale die ganze Pracht der Spätgotik
entwickelt, so übertrifft in Wien das Primglöcklcin-Tor
an Schönheit des Baues beiweitem die arme West-
fassadc. Freilich war es unmittelbar zugänglich und
sichtbar. Ähnlich ging es beim analogen nördlichen
Tor. Auch die beiden Tore, welche an den Langseiten
weiter gegen Westen stehen, sind geradezu monumental
ausgcbaut, gehören zu den schönsten Zierden nicht
Wiens allein, sondern Österreichs. Aber wer beim
Tore der Kantorei de» Friedhof betrat — dort er
wartete der Domklerus den Landesfürsten — sah doch
zuerst das Singertor, dann in der Ferne das Prim-
glöckleintor, und erst, wenn er zum Westportale vor
schritt, konnte er dieses betrachten. Aber es mußte
ihm gegenüber den anderen Toren ärmlich, fast wie ein
Provisorium erscheinen.
Daher hatte die ganze Fassade an Bedeutung verloren,
als die Westempore, auf der die Kapitelversammlungen
der Domherren nach dem Stiftsbriefe Rudolfs IV.
zu halten und drei Altäre auszustellen waren, allzu
niedrig erbaut wurde (mit Rücksicht auf die spät
romanischen Gemächer in den Heidentürmen, die aus
technischen, Wohl auch anderen Praktischen Gründen
geschont werden mußte n). Da handelte es sich beim
Aufbau der Fassadenwand um genügende Beleuchtung
des zu tief, direkt auf dem Portale sitzenden Emporcn-
raumes. Der Baumeister mußte mit der Unterkante
der zu schaffenden Fensterbank tiefer kommen, als das
Dächlein des Portales. Unbedenklich riß er das
Dächlein und noch ein Paar Schichten des Portales
ein, war dieses ja doch gering zu achten in den
Augen des viel bewunderten Gotikers. So wurde
das Portale verstümmelt, aber die Ruine fein säuberlich
wieder zugedeckt. Es ist gar nicht zu zweifeln, daß, wenn
die Mittel ausgereicht hätten, er vielleicht kein so hohes
Fassadenfenster geschaffen hätte, dafür aber hätte er
anderswie Licht in die Empore gebracht und wäre
gerade durch die sich ergebende Schwierigkeit zur
Schöpfung eines großartigen gotischen Portales inspiriert
worden, welches das Primglöckleintor seiner Vorgänger
weitaus in den Schatten gestellt hätte. Aber der
hohe Turin mußte fertig werden und wurde fertig,
die Fassade konnte warten, wie italienische Fassaden
noch heute auf ihre Vollendung warten. Und das
Portale wartet noch heute auf seine Vollendung:
denn allerdings war, was 1422 geschaffen wurde,
eigentlich doch nur eine Art eines allzu guten Provi
soriums.
Wie man in Wiener-Neustadt den im Laufe der
Jahrhunderte arg vernachlässigten Rcckturm nicht in
jener nüchternen Form — als „teures" Andenken an
knnstarmc Zeiten — belassen wollte, wie er in dieses
Jahrhundert sich gerettet hat; wie man ihn in alter
Weise herstellte, obschon an ihm vielleicht noch weniger
Anzeichen seines alten Aussehens, als an unserem
Portale, sich fanden; wie man nicht ans antiquarisch-
wissenschaftlichen Gründen, auch nicht aus Vorliebe
für mittelalterliche Festnngstürme ihn restauriert und
gedeckt hat, sondern um das Stadtbild schöner,
charakteristischer zu gestalten: so sollte der billig
denkende Wiener, dem die allseitige Schönheit und
V v l l c n d e t h e i t seines Domes am Herzen liegt,
sich den Gründen nicht verschließen, die wir in
akademischer Weise — ohne Rücksicht auf irgcndwen —
als eine Rezension hier niedergelegt haben.
N c u m a n n.
HcrauSgegebcn vom Wiener Domdauveretne.
Redacteur: Prof. Dr. Wilhelm A. Reumann.
Kanjlei des Vereines: Stadt, fürsterzdischöflicheS Palais.
Druckerei der l. Wiener Zeitung.