Wiener
XXIII. Jahrgang. Wien, 22. Mai 1904. Nr. 15 u. 16 (3. Serie).
Der Nmnersteiil in der St. Steplianskirche.
Bon Prof. Dr. W. A. Neumann.
Vor mehr als 20 Jahren wurde bei der Restau
rierung der Westempore eine römische Inschrift von
der Tünche befreit, dem Funde aber keine besondere
Wichtigkeit bcigelcgt, so daß mir davon keine Kunde
zukam. Ein Abguß der Inschrift wurde gemacht, auf
welchen der ausgezeichnete Kenner römischer Inschriften,
Prof. Dr. Kubitschek aufmerksam wurde. Er
hatte die Güte, mir eine Abschrift der verkehrt ein
gesetzten Inschrift zu Gebote zu stellen.
Der Stein befindet sich unter der Westempore, in
deren nördlichem Flügel, in der Ostwand des Erd
geschosses des nördlichen Heidenturmes. Er sitzt in der
11. Schicht, 2'9 m über dem Pflaster der Kirche,
3? am rechts von der Kante der Tür, die in die Wachs
kammer führt. Er hat eine Breite von ^ 47 bis 49 ein,
wue Höhe von 35 bis 37 em. Er dürfte in der
Gegend von Lindabrunn gebrochen worden sein und
kst durch die etwas lichtere Farbe des Materiales er
kennbar. Als man im XV. Jahrhundert den Raum
wit Fresken zieren wollte, von denen einzelne Reste
Unter der Empore noch erkennbar sind, scharierte man
den ganzen Stein und machte einzelne Buchstaben un
deutlich oder zerstörte sie vollends.
Die Lesung lautet nach Prof. Dr. Kubitschek so:
H - XIIII 6LN
UXH * VI6
60H - VI - 0
I.VD LX?L6D
wit Worten: 4,6AsioniKj XIIII Aöinsinnej
Nni^ tinsj vieslrieisj
(lolffortisj VI (sextns) essntnrin^
Ontftntisl Lxpseijnlij
Übersetzung: Die Oenturio des Outatus Lxpse-
knlu°; non der 6. Ooliortk der XIIII. Oegion, die
^fn Namen und Ehrentitel führt: Aöiniirg. IVInrtin
walrix (die sieghafte).
Die XIV. Legion hatte einen Teil der Lagermauern
wr römischen Vindobona, und zwar gerade den Teil
^baut, welchem vis-n-vis die romanische Kirche
Stephan erbaut wurde. Es mögen um diese Zeit
(bis 1147) noch ziemlich hohe Mauern sich erhoben
Huben; die obersten Partien waren vielleicht schon
Üüher, als die Ungarn die Stadt bezwangen, herab
geworfen worden. — Aber es wäre vielleicht auch
denkbar, daß der Stein nicht von dieser Mauer,
sondern aus dem Inneren des Lagers sei hiehcr ge
bracht worden. Dem könnte man freilich entgegenhalten,
daß man sehr wahrscheinlich das Material sich von
so nahe beschafft habe, als nur möglich.
Wie es auch sei, da ja auch an dem ehemaligen
Pfarrgebäudc (jetzt erzbischöflicher Palast) eine wichtige
Inschrift eingemaucrt gewesen ist, kann die Ver
mutung nicht völlig abzuweisen sein, daß noch manch
andere Steine, die bei St. Stephan verbaut wurden,
von römischen Bauten stammen. — Die Zuweisung
unseres Steines nach Lindabrunn bei Leobcrsdorf mag
auffallend sein. Sie stammt von den erfahrenen Stein
metzen unserer Dombauhütte, welche die verschiedenen
Baumaterialien des Domes seit vielen Jahren kennen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Römer schon
nahe und fern Steine gebrochen haben, und wenn
auch die Gemeinde Lindabrunn sich erst 1371 eine
eigene Kirche erbaute, so ist die Möglichkeit nicht
gänzlich abzuweisen, daß schon in sehr alter Zeit sich
die römischen Soldaten hier ihren Bedarf holten, da
die gute Straße fast dicht daran vorbeiführte.
Die Reliquienschatzkammer der Metro-
palitnnkirchc zum heil. Stephan in Wien.
Unter Reliquien st versteht man nach kirchlichem
Sprachgebrauche die Überreste von den Leibern der
Heiligen und im weiteren Sinne Alles, was nach
dem Tode derselben von ihnen auf Erden zurück
geblieben war (Kleider, Marterwerkzeuge u. dgl.).
Abgesehen von der Pietät, welche alle Völker des
Altertums für die Überreste hervorragender Personen
hegte, hat die katholische Kirche die Verehrung der
Reliquien der Heiligen zu einem religiösen Kult
erhoben; das Tridentinische Konzil (Lsss. XXV) hat
nämlich endgültig den Glaubenssatz definiert, daß den
Reliquien der Heiligen Verehrung gebührt und diese
Verehrung den Gläubigen nützlich ist, und als Motiv
hiefür angeführt, daß die Leiber der Heiligen lebendige
Glieder Christi und Tempel des heil. Geistes waren,
die zur Auferstehung und ewigen Verherrlichung be
stimmt sind, und daß Gott durch die Reliquien zahl
st Vgl.Artikel „Reliquien" in Wetzer u. Weltes Kirchen-
I lexikon, 2. Ausl., I»97, I I. Bd., S. 103» ff.
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